Am 19.12.2021 ist unser LIFIS-Mitglied Rainer Thiel im Alter von 91 Jahren nach kurzer Krankheit verstorben. Noch vor einem Jahr haben wir in Storkow ein viel beachtetes Ehrenkolloquium aus Anlass von Thiels 90. Geburtstag ausgerichtet mit einem wie immer tatkräftigen Jubilar als Hauptperson. In den letzten Jahren waren wir gemeinsam bemüht, das Erbe der DDR-Erfinderschulen aufzuarbeiten und der nationalen und internationalen TRIZ-Community besser bekannt zu machen. Drei Bände der „Rohrbacher Manuskripte“ und mehrere Veröffentlichungen in englischer und russischer Sprache sind dabei entstanden.
Rainer Thiel stieß zu LIFIS im Zuge des Aufbaus unseres neuen Schwerpunkts Systematische Innovationsmethodiken. Eigentlich war er sogar der Auslöser und Initiator dieses neuen LIFIS-Profils, indem er andere begeisterte, sich mit dieser Thematik zu befassen. Mit der 23. Leibniz-Konferenz Entwicklungen der TRIZ. Beginn einer umfangreichen Systematisierung konnten wir wichtige TRIZ-Player in Deutschland erreichen, nicht zuletzt mit zwei Beiträgen von Rainer zur Geschichte der Erfinderschulen und zu ProHEAL als Erfindermethodik, an deren Entwicklung Rainer einen wesentlichen Anteil hatte.
Dialektisches Denken in sich entwickelnden Widersprüchen, Kreativität und die Vermittlung entsprechender Methodiken waren wichtige Konstanten in Rainers Leben, von den ersten großen Publikationen Quantität oder Begriff? und Mathematik – Sprache – Dialektik angefangen bis zu seinen Bemühungen, auch zum Kolloquium anlässlich seines 90. Geburtstags dem Dialektikbegriff einen angemessenen Platz zu schaffen. In diesen Fragen ist Thiel Schüler von Georg Klaus, dessen Themen für ihn ein Leben lang das große Leitbild bleiben – Dialektik, Logik, Mathematik, Kybernetik sowie Erkenntnisse der Naturwissenschaften.
Als Sekretär der Kommission für Kybernetik, die Georg Klaus 1961 an der Akademie der Wissenschaften gegründet hat, und später im Ministerium für Wissenschaft und Technik ist Rainer Zeuge und Beteiligter der Geburt einer neuen Wissenschaftsdisziplin, die auch im Osten Deutschlands eine wichtige Rolle spielte. Rainer steckte mitten in den politischen Auseinandersetzungen um die praktische Anwendung der Kybernetik auf ökonomische Systeme im Zuge der NÖS und wird Zeuge des Ringens von Befürwortern und Gegnern dieses Ansatzes im Zentrum der Macht, einer spannenden Entwicklung, die 1971 ihr jähes Ende fand.
In den 1980er Jahren findet Rainer ein neues Betätigungsfeld in den Erfinderschulen, in denen sich in den letzten 10 Jahren der DDR neue Formen des kreativen Umgangs mit technischen und ökonomischen Problemen herausbilden. In enger Zusammenarbeit mit erfahrenen Erfindern, insbesondere einer Gruppe „Verdienter Erfinder“ um Michael Herrlich, werden zusammen mit einzelnen Kombinaten etwa 300 praktische Erfinderkurse organisiert sowie dazu erforderliche Lehrmaterialien und auch theoretische Grundlagen erarbeitet. Basis ist Altschullers TRIZ, deren stärker ingenieur-technisch orientierte Methodik um ökonomisch-organisatorische Momente erweitert wird, wie sie im betrieblichen Alltag eine wichtige Rolle spielen. Mit ProHEAL (Programm zur Herausarbeitung erfinderischer Aufgaben und Lösungen – Hans-Jochen Rindfleisch und Rainer Thiel) und WOIS (Widerspruchsorientierte Innovationsstrategien – Hansjürgen Linde) entstanden dabei zwei neue Varianten der TRIZ.
Diese Entwicklungen fanden 1990 ein jähes Ende. Die Versuche, die Erfahrungen im innovativen Lösen widersprüchlicher Probleme in einen gesamtdeutschen Wissensschatz einzubringen, scheitern auch hier an westdeutscher ignoranter Überheblichkeit. 1993 erscheint eine letzte Bestandsaufnahme „Erfinderschulen in der DDR“ dieser 10 Jahre praktizierter Innovationsmethodik, danach fallen die Erfahrungen dem Vergessen anheim. TRIZ beginnt nach 2000 im Zuge der verstärkten Auswanderung russischer Fachkräfte auch nach Europa neue Bedeutung zu erlangen, ohne je an jene verschütteten Erfahrungen anzuknüpfen. Trotz vielfach beschworener Innovationsrhetorik ist und bleibt TRIZ in Deutschland bis zum heutigen Tag die unbekannte „Geheimwaffe“ eines kleinen Häufleins „Illuminierter“.
Dies wollen wir mit unserem LIFIS-Schwerpunkt ändern, für den wir weitere Mitstreiter wie Justus Schollmeyer, Olaf Weber und Dietmar Zobel gewinnen konnten. Im Mittelpunkt der Arbeit stand das Vertrautwerden mit TRIZ-Entwicklungen, der Aufbau und weitere Ausbau der Kontakte zur nationalen und internationalen TRIZ-Community und die Sicherung des Erbes der DDR-Erfinderschulen. Auch hierbei war es Rainers besonderes Anliegen, in diesen auf den ersten Blick rein sozio-technischen Fragen die Bedeutung dialektischen Denkens von widersprüchlichen Strukturentwicklungen in den Traditionen von Hegel und Marx herauszuarbeiten. Unsere gemeinsamen Ergebnisse wurden im Kontext von LIFIS auf mehreren Workshops und 2019 auf einer weiteren Leibniz-Konferenz vorgestellt und diskutiert. Rainer stand hier als Akteur und Zeitzeuge kenntnisreich und unterstützend zur Seite. Die aktuelle Publikation ProHEAL Basics – Extended Version, deren Vorabversionen Rainer noch mit durchgesehen hat, ist bereits posthum erschienen.
Altschuller elektrisierte Thiel, weil beide Verwandte im Geiste waren. In Altschullers Theorie der Entwicklung schöpferischer Persönlichkeiten (TRTL) wird vor allem Wert auf ein Würdiges Ziel gelegt, der eine schöpferische Persönlichkeit sein Leben widmet. 2012 hat Rainer dieses sein Würdiges Ziel klar formuliert: „Was zu gewinnen ist: Eine solidarische Welt emanzipierter Menschen. Es muss uns doch gelingen.“ Rainer war ein streitbarer Zeitgenosse und ist in seinem Leben oft angeeckt. Eines hat er sich dabei immer bewahrt – seinen unbedingten Humanismus. So wird er uns in Erinnerung bleiben.